Die Künstlerinnen Franziska und Mercedes Welte aus Feldkirch in Vorarlberg zeigen ihre Arbeit aus 2004
...NOCH WARM, DOCH SCHON WEIT FORT...
...Noch warm, doch schon weit fort
wo gehst du hin?
Werden wir uns wieder sehen
du fehlst...
Gehen wir ins Licht? Ist da jemand, der auf uns
wartet? Werden wir es „sehen“ können oder nur
fühlen? Wir wollen es nicht wissen...oder doch?
Siebdrucke 200 x 100 cm Siebdrucke 2004 im Besitz der Künstlerinnen
Diese Arbeit setzt sich mit dem plötzlichen Tod des Ehepartners einer der beiden Künstlerinnen 2001 auseinander. Sie ist im Rahmen der von Wolfgang Christian Huber kuratierten Jahresausstellung im Stift Klosterneuburg mit dem Tiel „Was Leid Tut“ (01.07.2020-15.11.2021) zu sehen.
Die Ausstellung durchleuchtet die Formen des Leids quer durch die Jahrhunderte mit ihren unterschiedlichen Stilepochen und Ausdrucksformen.
Diese Arbeit wirft Grundfragen auf, die beim Verlust eines geliebten Menschen beschäftigen und bewegen.
Die Ästhetik der Rezeption eines Kunstwerkes ist ein Oszillieren der unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen durch die menschlichen Sinne: Sehen, Hören, Fühlen, Tasten und Riechen.[1]
Die Ekphrasis ermöglicht als rhetorische Disziplin oder literarische Gattung, die Bildkraft der Sprache und deren Fähigkeit, Gesehenes in Worte gekleidet, zu erzählen. Die Beschreibung eines Kunstwerkes erfordert daher ein oszillierendes Nebeneinander der verschiedenen Disziplinen.
Es geht um synästhetische Wahrnehmungen, die Gesehenes sprechen lassen und gesprochene Worte und Gedanken mit Bildern aufladen.[2]
Überzeitliche Sinnfragen, die über den Tod eines Menschen hinausgehen, wie sie auch bei Paul Gaugin, in seinem Hauptwerk aus 1897/98, Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?, (Museum of Modern Art, Boston) gebündelt und tief eingewoben angelegt sind agieren auch hier als fundamentale Basis.
Dieses Gemälde ist wie „...NOCH WARM, DOCH SCHON WEIT FORT...“, ein
Memorialwerk im Sinne der Erinnerungskultur von Jan & Aleida Assmann,
das neben biographischem auch testamentarischem Charakter, im Sinne von Memoria, als eine Kultur der Erinnerung aufweist.[3]
Die zentrale Fragestellung lautet: „Wie wollen wir uns erinnern?“
Eine aufmerksame Reflexion zu dieser sehr intimen Arbeit ermöglicht dem Betrachter die Sicht auf die Konvergenz von Kunstgehalt und Kunstumsetzung.
Kultur braucht Erinnerung. Erinnerung braucht Kultur.[4]
Das gemeinsame Erinnern speist den Fluss der persönlichen und individuellen Erinnerungskultur.
Orte des Gedenkens und verbindende Rituale gegen das Vergessen formen eine bleibende Erinnerungslandschaft.[5]
Das Werk besteht aus drei Bannern mit drei Gesichtern in unterschiedlichen Darstellungsweisen. Die Arbeit ist als Triptychon angelegt und bekommt durch die Einbettung in die apsisartige Rundbogennische einen weihevollen Tempelcharakter.
Das verbindende Element zwischen den drei Gesichtern ist der Nonnen-Schleier, der das Haupt schützend ummantelt. Beim dritten Gesicht breitet sich ein diaphaner netzartiger Schleier über das Antlitz des Gesichtes.
Der Schleier bringt eine geheimnisvoll-sakrale Komponente in diese Arbeit.
Das weiße Gesicht ist als Werks-Entrée angelegt. Frontal auf den Betrachter hin ausgerichtet tritt es mit fest verschlossenen Augen dem Gegenüber entgegen. Geschwärzte Lider mit zeichnerisch angelegten Farbakzenten vermitteln Schwere, Trauer und unermessliches Leid; bedingt durch den Verlust des geliebten Menschen. Dieser große Herzensschmerz wird vom Betrachter mit allen Sinnen wahrgenommen.
Das weiße Inkarnat wirkt fahl und leblos. Es steht allegorisch für jene Menschen, welche die diesseitige Welt verlassen müssen. Der Geruch der Vergänglichkeit und des Todes im Geiste des barocken Memento mori drängt sich aufdringlich in den Raum herein.
Unsicherheit und Angst vor der eigenen Sterblichkeit durchfließen die Gefühlswelt des Betrachters; die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits öffnet sich verschwommen vor dem geistigen Auge.
Das Schließen der Augen des Verstorbenen als Vorbereitung für die letzte Ruhe zählt zu den zärtlichen Ritualen beim Abschiednehmen.
Geschlossene Augen bringen den Seelenfrieden für die letzte Ruhe.
Die Aura der Ewigkeit verklärt den Raum und durchtränkt ihn in feinen Wellen mit dem Äther der Unendlichkeit des Universums.
Mehr und mehr löst sich die Seele vom Körper und macht sich bereit für die Reise in die Weiten des Kosmos, voll von Helligkeit und Licht.
Gibt es ein Wiedersehen?
Die Farbe Weiß steht in der Offenbarung nach Johannes (Off 22/12) für Alpha und Omega und symbolisiert die Auferstehung von Jesus Christus.
In der rechten Puille entpuppt sich bei genauem Hinsehen aus den roten Farblinien der Umriss eines Neugeborenen.
Gibt es eine Wiederkehr?
Das zweite Gesicht schmiegt sich ein in die etwas nach hinten versetzte Raumnische wie ein Altarblatt ein. Es wird von einem purpurroten Schleier gerahmt. Nach oben hin gibt es luftige Weite.
Das Rot bringt Wärme und Vertrauen in die kapellenartige Raumsituation.
Rot steht auch für eruptive emotionale Erregung. Der porzellanweiße Teint wirkt zerbrechlich und filigran. Licht- und Schattenspiele gepaart mit der Stille des Ortes betonen das feierlich sakrale Arrangement.
Das Inkarnat ist geweißt und verbreitet den Geruch der Leblosigkeit und des Schmerzes. Hier spielt die Ikonographie der „7 Schmerzen Mariens“ herein. Das Vesperbild der Pietà gilt als Sinnbild für das Leiden der Gottesmutter nach dem Verlust des geliebten Sohnes durch den Kreuzestod.
Die Farbe Rot verweist in der christlichen Ikonographie auf die Passion Christi und den Schmerz der Gottesmutter: „Ein Schwert wird durch deine Seele gehen“, steht im Evangelium nach Lucas (Lucas, 2/35).
Der leuchtend intensive Purpur ist die Farbe der Herrscher. Purpur ist kostbar und vermittelt Stärke und Macht. Der Herstellungsprozess aus der Purpurschnecke wird schon von Plinius in seiner "Naturalis historia" ausführlich beschrieben.
Durch die transzendente Lichtsituation spielt eine mystische Komponente herein, die eine synästhetische Wahrnehmung anregt. [6]
Das Gesicht blickt den Betrachter mit leicht geöffneten Augen an und animiert zur Selbstreflexion der eigenen nietzeanischen Seelenlandschaft.
Der vierte Banner präsentiert ein hell ausgeleuchtetes Gesicht in Dreiviertelansicht. Ein durchsichtiger flauschiger Schleier bedeckt das Gesicht.
Der Schleier enthüllt, wo er scheinbar verhüllt. Lucas Cranach perfektionierte diesen Kunstgriff der Schleierinszenierung meisterhaft.[7] Das Künstlerehepaar
Christo und Jeanne-Claude realisierte seit den 1960er Jahren ihre spektakulären Verhüllungsprojekte.[8]
Der Schleier ist mehr ein Mittel der Enthüllung als eines der Bedeckung.
Die Verletzlichkeit und Zartheit der Gefühlswelt wird betont.
Das rhombenförmige Gitternetz vermittelt Unruhe und Ungewissheit.
Das Netz als Schleier schafft Abstand und lässt keinen klaren Blick auf das Herankommende zu. Es steht symbolisch für das ungewisse Neue, das den Verstorbenen im Jenseits erwarten wird.
Der Schleier birgt auch eine rätselhafte Komponente in sich, deren Lösung in der Versöhnung von Natur und Geist liegt.[9]
Das Netz hat eine weiche, anschmiegsame Struktur. Ein Gefühl von Herzenswärme und liebevoller Zärtlichkeit stellt sich nach dem großen Schmerz der Trauer ein.
Das Verhüllen durch ein Netz zeigt das Mysterium des Erscheinens. Durch das Bedecktsein wird das Gesicht erst sichtbar. Das Tuch verdeckt nicht, sondern es wird vom Gesicht feierlich getragen. Der Schleier agiert als Präfiguration der Hoffnung nach Trostlosigkeit und Schmerz.
Die „PIETÀ 2000“ aus 2014 von Thomas Naegerl öffnet sich als einfühlsame Gesprächspartnerin für eine „stille Konversation“. Die glatt polierte helle Marmoroberfläche unterstreicht diesen Neubeginn durch ihre strahlend weiß schimmernde Farbe und der amorphen Formensprache.
Lucas Cranach der Ältere war ein Meister der „Schleierinszenierung“. Der transparente, dünne Schleier betont den erotischen Charakter einer Darstellung. Er ist Mittel der Enthüllung statt der Bedeckung. Die Verletzlichkeit und Zartheit der Gefühlswelt werden auf gefühlvolle Weise betont. Das schleierartige Netz bringt eine reliefartige Plastizität in die Landschaft des Gesichtes.
Das Gesicht im Dreiviertelprofiel lässt den Blick in die hoffnungsvolle Zukunft schweifen. Die Düsternis des Todes weicht. Sie muss dem liebkosenden Leuchten der Morgengöttin Aurora weichen, das den beginnenden Tag in pudrige Pastelltöne taucht.
Cranach der Ältere. Katalog anlässlich der Ausstellung im Städel Museum, Frankfurt a. M. - 2008, S. 99-209.
Seelenfrieden und Herzenswärme bringen neuen Mut und kreative Schaffenskraft in die Mimik. Weiche Konturen umspielen die Mundpartie und formen die Stirnfalten zur romantisch lieblichen Hügellandschaft.
Abgeklärtheit und Schwerelosigkeit sind für den Betrachter nun fühlbar geworden.
...Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne...(Hesse, 1941).
Franziska und Mercedes Welte leben in Feldkirch und arbeiten gemeinsam in ihrem Atelier in Lochau. Hier in ihrem Schlossrefugium am Südufer des Bodensees finden sie ihre Inspirationen und diese Unmenge an schöpferischer Urkraft und Herzenswärme, die das Besondere ihrer Kunstwerke ausmachen.
[1] Kemp, Wolfgang, Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Ostfildern 1991.
[2] Boehm, Gottfried, Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache in: Grenzen der Bildinterpretation, hgg. v. Michael R. Müller, Jürgen Soeffner, Hans-Georg, Wiesbaden 2014, S. 15-37.
[3] Vgl.: Assman, Aleida, Jan Assman (Hgg.), Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Frankfurt a. M. 2018.
[4] Vgl.: Bubmann, Peter, Hans Dickel (Hgg.), Ästhetische Bildung in der Erinnerungskultur, Bielefeld 2014.
[5] Vgl.: Nora, Pierre, Les lieux de mémoire, Paris 1984.
[6] Kandinski , Über das Geistige in der Kunst. Insbesondere in der Malerei, München 1911.
[7] Vgl.: Werner, Elke Anna, Die Schleier der Venus. Zu einer Metapher des Sehens bei Lucas Cranach d. Ä, in:
[8] Goldberger, Paul, Christo und Jeanne-Claude, 2019.
[9] Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1970.