Texte über Kunst & KünsterInnen

Spezialität - zeitgenössische Kunst / contemporary art

Texte und Essays erstelle ich gerne nach einem mit dem Auftraggeber gemeinsam definierten Anforderungsprofil. Wichtig dabei ist ein eingehendes Vorgespräch mit gegenseitigem Kennlernen.

Meine Spezialität sind Texte über zeitgenössische Kunstwerke.

„Il faut être de son temps" -  (Honoré Daumier) - Man muss  „ein Kind seiner Zeit sein", um das richtige Gespür für die eigene Zeit zu haben.

Wenn ich über zeitgenössische Kunst des 20. und 21. Jahrhundert schreibe, versuche ich …

… mich in das Kunstwerk mit allen Sinnen hinein zu fühlen, statt nach Worten zu suchen ...

Die Grenzen zwischen Künstler, Kunstwerk und Betrachter verwischen sich in der zeitgenössischen Kunst mehr und mehr.
Adorno (1903-1969) spricht von einer "Verfransung" der Künste".

Was will das Kunstwerk mir sagen?
Wie fühlt es sich an, kann ich etwas erspüren und wahrnehmen?
Passiert vielleicht etwas mit mir selbst beim Wahrnehmen des Werkes?
Wirkt es auf mich kühl und schroff oder scheint es mich mit offenen Armen empfangen zu wollen?

Es ist auch eine Frage der Ästhetik. Was macht ein Kunstwerk zum Kunstwerk?
Hier spielt auch die Frage der "aboutness" herein.
Der Porte - bouteilles (Flaschentrockner) von Marcel Duchamp agiert als Schlüsselwerk in der Kunst des 20. Jahrhundert.
Andy Warhol (1928-1987) gilt als ein Wegbereiter der Minimal Art und vollzog mit seinen Werken einen Kulturwandel.

Spannend sind Rückgriffe und Paraphrasen von zeitgenössischen Künstlern auf vorangegangene Stilepochen.

Traecy Emin von den Young British Artists greift das Werk von Edward Munch (1863 - 1944) auf und verwebt ihr Werk mit dem Seinen.

Es sind nicht nur die Augen und Ohren, die uns die Aussage des Kunstwerks übermitteln. Vielmehr ist es eine sinnliche Wahrnehmung, die alle Sinnesorgane betrifft. Besonders der Haptik kommt große Bedeutung zu. Michael Fried bringt in der Nachfolge von Clement Greenberg (1909-1994) den Terminus der "Theatralik" der Kunstwerke  die in das Performative überleitet, ins Spiel.

Hier geht es um den phänomenologischen Zugang zum Kunstwerk, der in den 1960er Jahren populär wurde. Theatralisch werden Werke der Minimal Art jedoch erst durch ihre „Bühnenpräsenz“ (Fried). Bei Hermann Nitsch erfährt der Betrachter das Kunstwerk am eigenen Leib.

Gerade moderne und zeitgenössische Kunst stellen den Betrachter vor große Herausforderungen. Das reine Betrachten mit dem Auge reicht nicht mehr aus. Es gilt sich aktiv in die Kunstwahrnehmung einzubringen.
Die Lehre von der Phänomenologie der Wahrnehmung (Maurice Merleau-Ponty 1908-1961) bietet  dem Rezipienten das nötige Werkzeug,um das Kunstwerk zu knacken. 

Betrachten, umkreisen, hineingehen, hindurchgehen,
riechen, schmecken, fühlen und
akustisch wahrnehmen; vieles ist hier möglich.

Meine Aufgabe sehe ich darin, in meinen Texten diese Inhalte und Aussagen auf verständliche und auch vor dem geistigen Auge erfahrbare Weise zu vermitteln.

Ein kleiner Auszug aus meinen Referenzen:

Text: Gertraud Kamml, BA

Franziska und Mercedes Welte. The Making of NONOS.

Die Geschwister Welte fertigen dreidimensionale, anmutig weibliche Skulpturen aus Stahl, Carbon, Epoxidharzen sowie lichtechten Pigmenten.

Franziska und Mercedes Welte gelten mittlerweile als Spezialistinnen für figurale, weibliche Skulpturen, für die sie den Terminus NONOS aus der Taufe gehoben haben.
Seit 2005 arbeiten die Schwestern gemeinsam an ihrem Œuvre.

In der Anfangsphase realisierten sie figurative Miniaturen aus Draht.
Mit der Zeit wurden Format und Größe der Arbeiten fruchtbringend gesteigert.
NONOS, das sind Skulpturen mit ausgeprägt weiblich definierter Silhouette, die als eine Art allegorisches Sinnbild der Lebensfreude agieren. Sie stellen eine kongeniale Verschmelzung zwischen Kunst in ihrer Eigenart und den weiblichen Urprinzipien dar:
Herzensliebe, Weisheit sowie Schönheit und Achtsamkeit gepaart mit schöpferischer Kraft sind in diesen Werken verankert.

Thematik, Hintergründe und Ikonographie

In der Formensprache und in der Farbgebung manifestieren sich autobiographische Lebenserfahrungen und Sichtweisen der Künstlerinnen. Woher die Bezeichnung NONOS kommt und welche Bewandtnis es damit auf sich hat, ist ein streng gehütetes Geheimnis.
Seit dem Jahr 2005 ist die Bezeichnung NONOS urheberrechtlich geschützt.

Als Vorlagen dienen die Urprinzipien des Weiblichen. Grundaufgabe ist es demnach, dieses schöpferische Potential zu veranschaulichen. Die NONOS treten in ihrer ästhetischen Formensprache, voll klarer innerer Kraft, selbstbewusst in Erscheinung. Sie vermitteln aber auch zarte Poesie, Freiheit und Unabhängigkeit.
NONOS stehen für Sinnes- sowie Lebensfreude und verweisen auch auf den kosmologischen Kreislauf des Werdens, Seins und Vergehens.

Es ist die große Freiheit in der Rezeption, die diese Arbeiten für den Betrachter so spannend macht und ihn zu einer aktiven Kunstwahrnehmung auffordert.
Zwischen den Künstlerinnen und ihren NONOS besteht eine enge Verbundenheit.
Das Refugium, Schloss Wellenstein am Bodensee, bietet glücklicherweise genug Raum für eine symbiotische Lebensgemeinschaft.

NONOISMUS:
Steht jetzt und in Zukunft für ein zartgliedriges und doch kraftvoll verwobenes Ensemble von Farbe, Form und Bewegung. Die NONOS vermitteln Weiblichkeit gepaart mit sinnlicher Freude und ungebremster lebensbejahender Kreativität. Sie liefern jedoch auch eine künstlerische Auseinandersetzung mit Fragen nach Selbst- und Fremdbestimmung oder Gegenwart und Zukunft.

Künstlerische Einordnung

Die vollplastisch allansichtig ausgeführten Skulpturen changieren zwischen unterlebensgroß hin zu überlebensgroßen Werken und raumgreifenden Installationen.
Sie beginnen zu oszillieren und versetzen ihre Umgebung in energetische Schwingungen.
Die neuen Arbeiten für den Park „Giardini della Marinaressa“ in Venedig beeindrucken durch ihr monumentales Erscheinungsbild. Die gotisch anmutenden, gelängten Skulpturen bewahren trotz der Größe ihre grazile, ästhetisch ausgewogene Formensprache. Sie vermitteln eine entmaterialisierte Schwerelosigkeit. Eine Art Spiritualisierung, die vom irdischen in den kosmischen Bereich überleitet.
Farbe weckt beim Betrachter starke energetische Reize. Zwischen Himmel und Erde, zwischen Licht und Dunkel entstehen die Farben, sagt ein indisches Sutra.
Die Töne Grün und Türkis stehen für den Himmel und das Meer, aber auch für Selbsterfahrung, Transzendenz und Spiritualität.
Als Sinnbilder für Meer, Luft und Himmel treten sie ikonenhaft in Erscheinung.

Die Künstlerinnen Franziska und Mercedes Welte realisieren in ihren Skulpturen anatomische Perfektion mit raumgreifender Dynamik, die unmittelbar mit dem Rezipienten in Interaktion tritt. Es ist dieses oszillierende Raumgefühl gepaart mit dem glatten, raffiniert in Erscheinung tretenden Kolorit der Oberflächengestaltung, das dem Betrachter eine alle Sinne ansprechende Kunsterfahrung ermöglicht. Je nach gewählter Betrachterposition ergeben sich, bedingt durch den unterschiedlichen Lichteinfall, geheimnisvolle Widerspiegelungen und Verschattungen.
Maurice Merleau-Ponty beschreibt das Wahrnehmen als ein Eindringen in die Dimension der Schöpfung. Reflexion ist in der Phänomenologie das Aufdecken von Unreflektiertem.
Die grazile, schwebende Formensprache der Skulpturen bringt für den Betrachter eine transzendente Wahrnehmungserfahrung mit sich.
Rezeptionsästhetik als eine sinnliche Wahrnehmung von Kunst ermöglicht deren Fortführung und letztlich liegt die Vollendung des offenen Kunstwerkes im Auge des Betrachters.

Rezeption und Ikonographie

„Das Glatte ist im Social-Media-Zeitalter die Signatur der Gegenwart“. Die Ästhetik des Glatten führt zu einer Art Nobilitierung des Gewohnten.
Die Empfindung ist eine Paarung des Blickes mit dem Gesehenen. Manchmal erfordert es ein Hindurchblicken durch das Sichtbare, um das Verdeckte aufzuspüren.
Die NONOS fusionieren das polierte Schönheitsideal mit der Sensibilität, Vulnerabilität und Gebrochenheit, dem das Schöne seine Verführungskraft und Erotik verdankt.
Die Poesie des Schönen geht einher mit Lust und Lebensfreude.
Das reizvolle Duellieren des Erhabenen mit dem Schönen spielt hier mit herein.
Die gelängte und dynamisch bewegte Formensprache verweist an die Ästhetik einer gotischen „Schönen Madonna“ und untermalt auf diese Weise die sinnlich erhabene Erscheinung der Skulpturen. Ein wohliges Erstaunen stellt sich beim Betrachter ein. Das grazile wohlproportionierte Äußere und das ästhetische Kleid der Farbe erwirken eine Schönheit, die Liebesgefühle erwachen lässt.

Fazit

Franziska und Mercedes Welte finden immer neue Ausdrucksformen. Neben Malerei, Relief, Plastik entwerfen sie Möbel und andere Design-Objekte.
Die NONOS finden große Anerkennung und sind auf Internationalen Kunstmessen und Ausstellungen zu sehen.
Die Installation der Markgräfin Agnes wurde vom Stift Klosterneuburg angekauft und wird ab Mai 2019 wieder gezeigt werden.
Der nächste Weg führt die NONOS im Rahmen der diesjährigen Biennale nach Venedig!
Eine spannende Liaison, die NONOS, der Giardini della Marinaressa und das Meer – es bleibt aufregend!

https://www.nonos.com/rezension/


Urheberrechte - Text: Gertraud Kamml, BA

Auftrag Pressetext Franziska & Mercedes Welte Arbeit Klosterneuburg

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Die Künstlerinnen Franziska und Mercedes Welte aus Feldkirch in Vorarlberg zeigen ihre Arbeit aus 2004

...NOCH WARM, DOCH SCHON WEIT FORT...

...Noch warm, doch schon weit fort
wo gehst du hin?
Werden wir uns wieder sehen
du fehlst...

Gehen wir ins Licht? Ist da jemand, der auf uns
wartet? Werden wir es „sehen“ können oder nur
fühlen? Wir wollen es nicht wissen...oder doch?

Siebdrucke 200 x 100 cm Siebdrucke 2004 im Besitz der Künstlerinnen

Diese Arbeit setzt sich mit dem plötzlichen Tod des Ehepartners einer der beiden Künstlerinnen 2001 auseinander. Sie ist im Rahmen der von Wolfgang Christian Huber kuratierten Jahresausstellung im Stift Klosterneuburg mit dem Tiel „Was Leid Tut“ (01.07.2020-15.11.2021) zu sehen.
Die Ausstellung durchleuchtet die Formen des Leids quer durch die Jahrhunderte mit ihren unterschiedlichen Stilepochen und Ausdrucksformen.

Diese Arbeit wirft Grundfragen auf, die beim Verlust eines geliebten Menschen beschäftigen und bewegen.
Die Ästhetik der Rezeption eines Kunstwerkes ist ein Oszillieren der unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen durch die menschlichen Sinne: Sehen, Hören, Fühlen, Tasten und Riechen.[1]

Die Ekphrasis ermöglicht als rhetorische Disziplin oder literarische Gattung, die Bildkraft der Sprache und deren Fähigkeit, Gesehenes in Worte gekleidet, zu erzählen. Die Beschreibung eines Kunstwerkes erfordert daher ein oszillierendes Nebeneinander der verschiedenen Disziplinen.
Es geht um synästhetische Wahrnehmungen, die Gesehenes sprechen lassen und gesprochene Worte und Gedanken mit Bildern aufladen.[2]
Überzeitliche Sinnfragen, die über den Tod eines Menschen hinausgehen, wie sie auch bei Paul Gaugin, in seinem Hauptwerk aus 1897/98, Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?, (Museum of Modern Art, Boston) gebündelt und tief eingewoben angelegt sind agieren auch hier als fundamentale Basis.
Dieses Gemälde ist wie „...NOCH WARM, DOCH SCHON WEIT FORT...“, ein
Memorialwerk im Sinne der Erinnerungskultur von Jan & Aleida Assmann,
das neben biographischem auch testamentarischem Charakter, im Sinne von Memoria, als eine Kultur der Erinnerung aufweist.[3]

Die zentrale Fragestellung lautet: „Wie wollen wir uns erinnern?“
Eine aufmerksame Reflexion zu dieser sehr intimen Arbeit ermöglicht dem Betrachter die Sicht auf die Konvergenz von Kunstgehalt und Kunstumsetzung.

Kultur braucht Erinnerung. Erinnerung braucht Kultur.[4]
Das gemeinsame Erinnern speist den Fluss der persönlichen und individuellen Erinnerungskultur.
Orte des Gedenkens und verbindende Rituale gegen das Vergessen formen eine bleibende Erinnerungslandschaft.[5]

Das Werk besteht aus drei Bannern mit drei Gesichtern in unterschiedlichen Darstellungsweisen. Die Arbeit ist als Triptychon angelegt und bekommt durch die Einbettung in die apsisartige Rundbogennische einen weihevollen Tempelcharakter.
Das verbindende Element zwischen den drei Gesichtern ist der Nonnen-Schleier, der das Haupt schützend ummantelt. Beim dritten Gesicht breitet sich ein diaphaner netzartiger Schleier über das Antlitz des Gesichtes.
Der Schleier bringt eine geheimnisvoll-sakrale Komponente in diese Arbeit.

Das weiße Gesicht ist als Werks-Entrée angelegt. Frontal auf den Betrachter hin ausgerichtet tritt es mit fest verschlossenen Augen dem Gegenüber entgegen. Geschwärzte Lider mit zeichnerisch angelegten Farbakzenten vermitteln Schwere, Trauer und unermessliches Leid; bedingt durch den Verlust des geliebten Menschen. Dieser große Herzensschmerz wird vom Betrachter mit allen Sinnen wahrgenommen.

Das weiße Inkarnat wirkt fahl und leblos. Es steht allegorisch für jene Menschen, welche die diesseitige Welt verlassen müssen. Der Geruch der Vergänglichkeit und des Todes im Geiste des barocken Memento mori drängt sich aufdringlich in den Raum herein.
Unsicherheit und Angst vor der eigenen Sterblichkeit durchfließen die Gefühlswelt des Betrachters; die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits öffnet sich verschwommen vor dem geistigen Auge.

Das Schließen der Augen des Verstorbenen als Vorbereitung für die letzte Ruhe zählt zu den zärtlichen Ritualen beim Abschiednehmen.
Geschlossene Augen bringen den Seelenfrieden für die letzte Ruhe.
Die Aura der Ewigkeit verklärt den Raum und durchtränkt ihn in feinen Wellen mit dem Äther der Unendlichkeit des Universums.
Mehr und mehr löst sich die Seele vom Körper und macht sich bereit für die Reise in die Weiten des Kosmos, voll von Helligkeit und Licht.
Gibt es ein Wiedersehen?

Die Farbe Weiß steht in der Offenbarung nach Johannes (Off 22/12) für Alpha und Omega und symbolisiert die Auferstehung von Jesus Christus.
In der rechten Puille entpuppt sich bei genauem Hinsehen aus den roten Farblinien der Umriss eines Neugeborenen.
Gibt es eine Wiederkehr?

Das zweite Gesicht schmiegt sich ein in die etwas nach hinten versetzte Raumnische wie ein Altarblatt ein. Es wird von einem purpurroten Schleier gerahmt. Nach oben hin gibt es luftige Weite.

Das Rot bringt Wärme und Vertrauen in die kapellenartige Raumsituation.
Rot steht auch für eruptive emotionale Erregung. Der porzellanweiße Teint wirkt zerbrechlich und filigran. Licht- und Schattenspiele gepaart mit der Stille des Ortes betonen das feierlich sakrale Arrangement.
Das Inkarnat ist geweißt und verbreitet den Geruch der Leblosigkeit und des Schmerzes. Hier spielt die Ikonographie der „7 Schmerzen Mariens“ herein. Das Vesperbild der Pietà gilt als Sinnbild für das Leiden der Gottesmutter nach dem Verlust des geliebten Sohnes durch den Kreuzestod.

Die Farbe Rot verweist in der christlichen Ikonographie auf die Passion Christi und den Schmerz der Gottesmutter: „Ein Schwert wird durch deine Seele gehen“, steht im Evangelium nach Lucas (Lucas, 2/35).
Der leuchtend intensive Purpur ist die Farbe der Herrscher. Purpur ist kostbar und vermittelt Stärke und Macht. Der Herstellungsprozess aus der Purpurschnecke wird schon von Plinius in seiner "Naturalis historia" ausführlich beschrieben.

Durch die transzendente Lichtsituation spielt eine mystische Komponente herein, die eine synästhetische Wahrnehmung anregt. [6]

Das Gesicht blickt den Betrachter mit leicht geöffneten Augen an und animiert zur Selbstreflexion der eigenen nietzeanischen Seelenlandschaft.

Der vierte Banner präsentiert ein hell ausgeleuchtetes Gesicht in Dreiviertelansicht. Ein durchsichtiger flauschiger Schleier bedeckt das Gesicht.

Der Schleier enthüllt, wo er scheinbar verhüllt. Lucas Cranach perfektionierte diesen Kunstgriff der Schleierinszenierung meisterhaft.[7] Das Künstlerehepaar

Christo und Jeanne-Claude realisierte seit den 1960er Jahren ihre spektakulären Verhüllungsprojekte.[8]

Der Schleier ist mehr ein Mittel der Enthüllung als eines der Bedeckung.
Die Verletzlichkeit und Zartheit der Gefühlswelt wird betont.
Das rhombenförmige Gitternetz vermittelt Unruhe und Ungewissheit.
Das Netz als Schleier schafft Abstand und lässt keinen klaren Blick auf das Herankommende zu. Es steht symbolisch für das ungewisse Neue, das den Verstorbenen im Jenseits erwarten wird.
Der Schleier birgt auch eine rätselhafte Komponente in sich, deren Lösung in der Versöhnung von Natur und Geist liegt.[9]
Das Netz hat eine weiche, anschmiegsame Struktur. Ein Gefühl von Herzenswärme und liebevoller Zärtlichkeit stellt sich nach dem großen Schmerz der Trauer ein.

Das Verhüllen durch ein Netz zeigt das Mysterium des Erscheinens. Durch das Bedecktsein wird das Gesicht erst sichtbar. Das Tuch verdeckt nicht, sondern es wird vom Gesicht feierlich getragen. Der Schleier agiert als Präfiguration der Hoffnung nach Trostlosigkeit und Schmerz.

Die „PIETÀ 2000“ aus 2014 von Thomas Naegerl öffnet sich als einfühlsame Gesprächspartnerin für eine „stille Konversation“. Die glatt polierte helle Marmoroberfläche unterstreicht diesen Neubeginn durch ihre strahlend weiß schimmernde Farbe und der amorphen Formensprache.

Lucas Cranach der Ältere war ein Meister der „Schleierinszenierung“. Der transparente, dünne Schleier betont den erotischen Charakter einer Darstellung. Er ist Mittel der Enthüllung statt der Bedeckung. Die Verletzlichkeit und Zartheit der Gefühlswelt werden auf gefühlvolle Weise betont. Das schleierartige Netz bringt eine reliefartige Plastizität in die Landschaft des Gesichtes.
Das Gesicht im Dreiviertelprofiel lässt den Blick in die hoffnungsvolle Zukunft schweifen. Die Düsternis des Todes weicht. Sie muss dem liebkosenden Leuchten der Morgengöttin Aurora weichen, das den beginnenden Tag in pudrige Pastelltöne taucht.

Cranach der Ältere. Katalog anlässlich der Ausstellung im Städel Museum, Frankfurt a. M. - 2008, S. 99-209.

Seelenfrieden und Herzenswärme bringen neuen Mut und kreative Schaffenskraft in die Mimik. Weiche Konturen umspielen die Mundpartie und formen die Stirnfalten zur romantisch lieblichen Hügellandschaft.
Abgeklärtheit und Schwerelosigkeit sind für den Betrachter nun fühlbar geworden.

...Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne...(Hesse, 1941).

Franziska und Mercedes Welte leben in Feldkirch und arbeiten gemeinsam in ihrem Atelier in Lochau. Hier in ihrem Schlossrefugium am Südufer des Bodensees finden sie ihre Inspirationen und diese Unmenge an schöpferischer Urkraft und Herzenswärme, die das Besondere ihrer Kunstwerke ausmachen.


[1] Kemp, Wolfgang, Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Ostfildern 1991.
[2] Boehm, Gottfried, Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache in: Grenzen der Bildinterpretation, hgg. v. Michael R. Müller, Jürgen Soeffner, Hans-Georg, Wiesbaden 2014, S. 15-37.
[3] Vgl.: Assman, Aleida, Jan Assman (Hgg.), Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Frankfurt a. M. 2018.

[4] Vgl.: Bubmann, Peter, Hans Dickel (Hgg.), Ästhetische Bildung in der Erinnerungskultur, Bielefeld 2014.
[5] Vgl.: Nora, Pierre, Les lieux de mémoire, Paris 1984.

[6] Kandinski , Über das Geistige in der Kunst. Insbesondere in der Malerei, München 1911.
[7] Vgl.: Werner, Elke Anna, Die Schleier der Venus. Zu einer Metapher des Sehens bei Lucas Cranach d. Ä, in:

[8] Goldberger, Paul, Christo und Jeanne-Claude, 2019.
[9] Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1970.

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